AFET: Vortrag 6 – Geschlechtsidentität und Geschlechterrollen

Wie bei allen Vortragszusammenfassungen gilt auch hier: Das ist eine teils wörtliche, teils zusammenfassende, teils auch nur den groben Sinn wiedergebende Zusammenfassung des Vortrags. Ich gebe keine Garantie für Vollständigkeit und Genauigkeit.

Geschlechtsidentität und Geschlechterrollen. Perspektiven theologischer Anthropologie

(Prof. Dr. Christoph Raedel, Gießen)

Prof. Raedel beginnt seinen Vortrag mit einigen einleitenden Beobachtungen:

Einige Geschlechterstereotype verlieren tatsächlich an Bedeutung.
Es gibt aber auch gegenläufige Trends, z.B. die Seggration bei den Ausbildungsberufen (Gender-Gap).
Es gibt also keinen eindeutigen, linearen Trend zur Geschlechtervermischung.

Die Frage, um die es geht, lautet:
Kann ich meine Geschlechtsidentität komplett selbst definieren?
Ist die Geschlechtsidentität komplett getrennt von der biologischen Konstitution?

Identitätskonstitution: Mann und Frau als Geschöpfe Gottes

Wir haben es mit dem Projekt „Selbstdefintion des Menschen“ in der Später-Moderne zu tun.
Aus christlicher Sicht gilt: Wer den Menschen verstehen will, muss über ihn hinausschauen. Das Wesen des Menschen definiert sich von seiner Beziehung zu Gott her.

Mit der Aufklärung wird dieses theozentrisches Verständnis abgelehnt und gegen ein anthropozentrisches Verständnis ausgetauscht: Der Mensch steht im Mittelpunkt und definiert sich selbst.

Für die christliche Anthropologie definiert sich das Personensein durch die Beziehung zum Anderen. Die Identität des Menschen ergibt sich aus seiner vertikalen (als Ebenbild von Gott und Christus) und horizontaler (Mitmenschen) Geschichte.

Ebenbildlichkeit markiert eine Grundunterscheidung zwischen Schöpfer und Geschöpf, die voneinander getrennt und aufeinander bezogen sind.

Ebenbildlichkeit drückt sich auch in der Bipolarität des Menschen als Mann und Frau, die diese Ebenbildlichkeit gemeinsam ausleben.

Ebenbildlichkeit als Bestimmung zum soziokulturellen Wesen in der ewige Kommunikation mit Gott und in der endlichen Kommunikation mit anderen Menschen.

Die Geschlechtsdifferenz zeigt die Unvollkommenheit des Mannes als Spezies Mensch. Er benötigt das geschlechtliche Gegenüber um als Spezies bestehen zu können.
Beziehung braucht Nicht-Identität und Mitteilung, damit man nicht nur das eigene Reden widergespiegelt bekommt (Polare Dialogizität von Mann und Frau). Der Andere ist mir ein geheimnisvolles Gegenüber, das ich nur durch Kommunikation entdecken, aber nie ganz entschlüsseln kann.

Die Institution der Ehe ist eine Einladung Gottes, die wir entweder annehmen oder ablehnen, aber wir können sie nicht ändern, weil es nicht in unserer Autorität fällt, das zu tun.

Identitätswiderspruch: Sünde als Missverhältnis im Verhalten zu sich selbst und zu anderen

Das Natürliche (das, was in der Natur jetzt zu beobachten ist) ist nicht identisch mit dem Geschöpflichen (Die Welt, wie Gott sie ursprünglich geschaffen hat). Denn das Natürliche trägt durch den Sündenfall auch immer die Spuren der Sündhaftigkeit der Welt in sich.
Was die Schöpfung ist, was sich Gott mit der Schöpfung gedacht hat, ist uns nur noch zugänglich durch das, worauf uns Christus und die Schrift verweisen.

Der Mensch hat sich in einem Selbst-Widerspruch verfangen, der der menschlichen Identität im Weg steht und diese verzerrt (Kierkegaard und die doppelte Verzweiflung des Menschen).
Diesem Widerspruch entgeht der Mensch nur, wenn er sich als von Gott geschaffen verstehen und wenn er annimmt, wie Gott ihn gemacht hat.
Ein Schritt in die Annahme dessen hinein, wie ich von Gott gesetzt bin, ist die Annahme meiner Schwäche. Und der andere Schritt ist es, sich so zu sehen, wie Christus mich sieht und nicht wie ich mich selbst sehe und wahrnehme.

Identitätszuspruch: Geschlechtsidentität als „neue Schöpfung“ in Jesus Christus

Jesus war wirklicher Mensch als wirklicher Mann.

Seine Geschlechtsidentität war

  1. Einzigartig: Er wusste um eine irdische Mutter und einen himmlischen Vater
  2. Paradigmatisch (alltäglich): Seine Geschlechtlichkeit ist ebenso alltäglich und gehört zu ihm wie seine Volkszugehörigkeit, sein Intellekt etc.
  3. Programmatisch: Seine Lebensrealität als unverheirateter, kinderloser Mann sprengt die Erwartung und Vorstellung seiner Zeit, aber er hinterlässt keinen Krater der Verwüstung, sondern redet positiv von Ehe und Familie und verweist auf die Gemeinde als seine Braut

Kol 1,15 als Schlüsseltext: Jesus als das Bild Gottes.

Christus dient als Bild für den neuen Menschen und als Ausdruck der Gemeinschaft mit Gott.
Als neue Schöpfung in Christus kann ein Mann ohne Frau und eine Frau ohne Mann sein, aber der Leib Christi kann nicht ohne Haupt und das Haupt nicht ohne Leib sein.

Ersetzt die neue Ordnung und die neue Schöpfung in Christus die alte Ordnung von Geschlechtlichkeit und Ehe?
Für das Leben im anbrechenden Gottesreich sind die biologischen Eltern der Beziehung zur Familie Gottes nachgeordnet. Aber Christus steht im Mittelpunkt der Schöpfung und ersetzt sie nicht, auch wenn er darüber hinaus verweist.
Die natürliche Identität markiert ein Zugehörigkeitsverhältnis, das von der Herkunft her lebt; die ekklesiale Identität markiert ein Zugehörigkeitsverhältnis, das von der Zukunft her lebt. Und in der Gegenwart existieren beide miteinander verschränkt.
Der Mensch wird zuerst leiblich natürlich geboren und dann geistlich von neuem geboren.

Sowohl Ehe und Ehelosigkeit werden in der Bibel gewürdigt und legitimiert.

  • Die Ehe verweist auf die Bundesbeziehung Gottes zu den Menschen.
  • Die Ehelosigkeit ermöglicht einen für das Reich Gottes ganz verfügbaren und von nicht-konkurrierenden Freundschaft bestimmten Lebensstil.

Seine Identität leben: Geschlechterrollen und ethische Verantwortung

Der Verweis auf die Zweigeschlechtlichkeit des Menschen sagt grundlegendes, aber noch nicht alles. Identität bewegt sich zwischen Konstitution und Konstruktion.
Die geschlechtliche Identität wird auch durch von außen herangetragene Stereotypen geprägt.
Stereotype sind nicht gänzlich negativ und enthalten oftmals einen wahren Kern. Sie werden negativ, wenn man sie unkritisch verallgemeinert und jedem aufdrängt.

Auf das Ganze gesehen gibt es gewisse Schwerpunkte mit Blick auf Mann und Frau, aber auf den einzelnen Menschen gesehen, finden sich Männer und Frauen auf der ganzen Bandbreite der Skala bestimmter Merkmale. Das darf man nicht ausblenden, weil man sonst die persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten eines Menschen unangemessen einschränkt und seine Einzigartigkeit als Mensch ignoriert. (Beispiel: Matheolympiade: Von 36 Siegern waren 34 Männer, aber eben auch zwei Frauen. Also ein männliches Ungleichgewicht, aber keine Ausschließlichkeit).


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