Class Relotius ist momentan in allen Medien. Er ist der mehrfach preisgekrönte Spiegel Journalist, der überführt wurde, mehrere seiner Artikel frei erfunden oder stark verfälscht zu haben. Der Spiegel äußert sich ausführlich selbst über diesen Fall.
Gerade heute ist auch ein englischsprachiger Artikel erschienen, der auch eine Arbeit von Claus Relotius zum Thema hat. Im Artikel „In einer kleinen Stadt“ vom März 2017 beschrieb der Journalist das Leben in einer amerikanischen Kleinstadt in Minnesota. Er hat dort drei Wochen verbracht und scheinbar ausführlich recherchiert …
… scheinbar. Denn die Bewohner der Stadt waren sehr verwundert, als sie den fertigen Artikel gelesen haben. Es haben sich massive Fehler und Einseitigkeiten eingeschlichen.
Michele Anderson und Jake Krohn – die in dem Ort wohnen und so gar nicht in das im Artikel vermittelte Bild von Trump-Fans passen – haben sich die Mühe gemacht 11 Fehler aufzulisten, die im Artikel gemacht wurden. Sie mussten sich auf 11 beschränken, auch wenn sie noch viel mehr hätten auflisten können:
There are so many lies here, that my friend Jake and I had to narrow them down to top 11 most absurd lies (we couldn’t do just 10) for the purpose of this article.
Ihr Fazit darüber, wie die Stadt im Artikel mit ihrer Stadt in der Wirklichkeit übereinstimmt, fällt brutal vernichtend aus:
What happened is beyond what I could have ever imagined: An article titled “Where they pray for Trump on Sundays,” and endless pages of an insulting, if not hilarious, excuse for journalism.
Not only did Relotius’ “exposé” on Fergus Falls make unrecognizable movie-like characters out of the people in my town that I interact with on a daily basis, but its very basic lack of truth and its bizarrely bleak portrayal of the place I love left a very sick, unsettled feeling in the pit of my stomach.
Und weiter:
In 7,300 words he really only got our town’s population and average annual temperature correct, and a few other basic things, like the names of businesses and public figures, things that a child could figure out in a Google search. The rest is uninhibited fiction (even as sloppy as citing an incorrect figure of citywide 70.4% electoral support for Trump, when the actual number was 62.6%), which begs the question of why Der Spiegel even invested in Relotius’ three week trip to the U.S., whether they should demand their money back from him, and what kind of institutional breakdown led to the supposedly world-class Der Spiegel fact-checking team completely dropping the ball on this one.
Der Artikel ist wirklich lesenswert – alleine wegen der Mühe, die sich die Beiden gemacht haben. Und gleichzeitig ist der Artikel auch eine Anklageschrift gegen die Mechanismen im Spiegel. So etwas hätte nie passieren können. Und die Fehler sind so offensichtlich, dass man sich fragt, was überhaupt überprüft worden ist von den verantwortlichen Personen im Spiegel. Was der Spiegel immerhin auch selbst einräumt.
Ich sage es immer wieder: Wir brauchen guten, objektiven und kritischen Journalismus. Aber Fälle wie dieser decken einerseits auf, dass einiges doch arg marode sein muss im System. Und andererseits ziehen die schlechten Journalisten leider auch die Guten mit in den Abgrund des Misstrauens. Da wird viel Vertrauen verbrannt. Und dieses Vertrauen lässt sich nur mit viel Mühe und Geduld wieder aufbauen. Das wird aber nur dann gelingen, wenn der Journalismus bereit ist, sich selbst schonungslos zu reflektieren und zu kritisieren und auch Kritik von außen ernst zu nehmen und nicht Reflex-artig abzulehnen, wenn sie aus „der falschen Ecke“ kommt.