Sehr gute Stimmungsanalyse zur gesellschaftlichen Situation in Deutschland von
Zwischen diesen beiden Polen, der linken Hyperkritik und dem rechten Ressentiment, hat sich jene bürgerliche Mitte schweigsam verkrümelt, die es nicht für die Aufgabe des Staates hält, die Auflösung überkommener Normativitäten gesetzgeberisch zu begleiten, sondern einen liberalen Ordnungsrahmen garantieren möchte, in dem plurale Lebensformen ohne normativen Druck in Zivilisiertheit miteinander auskommen können.
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Die kulturalistische Linke, die nicht mehr Verteilungsfragen in den Vordergrund stellt, sondern den gesellschaftlichen Überbau neu buchstabiert, indem sie alle überlieferten Rollenmuster kritisch infrage stellt, hat diskursstrategisch auf ganzer Linie gesiegt. Wer da nicht mitmachen will, wer die eigene Heteronormativität nicht problematisiert sehen möchte, muss heute politisch mindestens bis zur AfD auswandern, um mit seinem Unbehagen kommunikativ wieder anschlussfähig zu werden, denn die Union unter Angela Merkel funktioniert nicht mehr als besonnener Katechon, als Aufhalter, der mit konservativer Behäbigkeit dafür sorgt, dass nicht alle Üblichkeiten in die Defensive geraten. Die Merkel-Union ist selber, wie es so schön heißt, urban geworden.
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Das Jahr 2015 war davon geprägt: Die Mitte bricht weg, links werden die Standards für eine moralisch korrekte Lebensführung hochgeschraubt, während man rechts dieser als gouvernantenhaft empfundenen Bevormundung in Fragen der Weltbeschreibung durch immer unverhohlenere Gewaltandrohungen das entgegensetzt, was man für den gesunden Menschenverstand hält. Jede kulturelle Hegemonie ruft Trotzreaktionen hervor.
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In der Flüchtlingskrise des vergangenen Sommers spitzte es sich dann zu. Es war nicht die Öffnung der deutschen Grenzen als solche, die möglicherweise wirklich notwendig war, um eine humanitäre Katastrophe zu verhindern. Aber begleitet wurde die neue Flüchtlingspolitik von einer Rhetorik der Alternativlosigkeit: dass sich Grenzen ohnehin nicht sichern ließen, dass sie moralisch fragwürdig seien. Im Gegenzug wurde ethnisch-kulturelle Diversität zur neuen Norm erhoben, die per se wünschenswert sei und keiner demokratischen Billigung bedürfe. Wer weiterhin der Meinung war, dass Staaten ihre Außengrenzen sichern können sollten und ein Gemeinwesen souverän darüber bestimmen können muss, in welchem Maße sich seine Demografie verändert, der war politisch heimatlos, wenn er nicht in den Reihen von Pegida mitmarschieren wollte. Schon wenn man über eine Einwanderungspolitik mit Quoten reden wollte, war man nicht mehr auf dem Boden der Willkommenskultur.
Der Artikel fasst meine größte Sorge derzeit zusammen: Das gesellschaftliche Auseinanderdriften und das damit immer größere Unverständnis und auch nicht verstehen wollen der anderen Seite. Man redet und schimpft übereinander. Und man beklagt die empfunden Ungerechtigkeit einem selbst gegenüber. Aber jeder flüchtet sich als Reaktion darauf immer mehr in seine Ecke und wird immer radikaler.
Eine solche Entwicklung hatten wir schon einmal in Deutschland und sie hat tragisch geendet. Ich möchte nicht sagen, dass wir uns in der Endphase der Weimarer Republik befinden. Ich hoffe, davon sind wir noch weit entfernt. Aber es ist eine ähnliche Entwicklung aus einfachen Parolen, die nur dazu dienen, sich selbst anzufeuern und den anderen niederzumachen ohne die Realität wirklich zu berücksichtigen, die mir Sorgen macht.