Hebr 1,6

Hebr 1,6: Als er nun seinen erstgeborenen Sohn wieder in die himmlische Welt eingeführt hat, spricht er: „Alle Engel Gottes sollen sich vor ihm niederwerfen und ihn anbeten.“

Dieser Vers beinhaltet einige Stolpersteine für Übersetzer. Es sind vor allem drei Elemente, die Kopfschmerzen bereiten können. Sie können jeweils sehr unterschiedlich verstanden werden und je nachdem, welche Übersetzungsvariante man für ein Element wählt, hat das Einfluss auf die anderen beiden Elemente.

Eine sehr ausführliche Beschäftigung mit diesen Schwierigkeiten in der Übersetzung liefert Lanes Hebräer-Kommentar in der Word Biblical Commentary Reihe. Er kommt dabei zu einigen interessanten Schlussfolgerungen.

Die drei Elemente sind folgende:
πάλιν = „wieder“
ὅταν … εἰσαγάγῃ = „wenn er … eingeführt wird“
οἰκουμένην = „Welt“

Das sind die Herausforderungen bei der Übersetzung dieser Elemente:

1. πάλιν = „wieder“

Worauf genau bezieht sich „wieder“ in diesem Text? Zwei Möglichkeiten sind plausibel:

a) „Wieder“ bezieht sich auf ein zukünftiges, zweites Kommen Jesu. πάλιν würde dann eher „erneut / ein zweites mal“ bedeuten. πάλιν wäre dann inhaltlich stark mit εἰσαγάγῃ „einführen“ verbunden.
Lane führt gute Argumente dafür an, die andere Ausleger in Spiel bringen. So lassen die Verse 4,7; 5,12; 6,1.6 ein Muster erkennen, bei dem πάλιν mit darauf folgendem Verb sich auf dieses Verb bezieht.

b) „Wieder“ fungiert als Bindeglied zwischen V.5 und V.6 im Sinne von „ein anderes Mal sagte Gott, als er …“. Lane favorisiert diese Erklärung und führt als Beleg die Verse 1,5; 2,13; 4,5 und 10,30 an, in denen πάλιν genau in diesem Sinne verwendet wird. In diesem Fall wäre πάλιν nicht mit εἰσαγάγῃ verknüpft, sondern auf λέγει bezogen.
Mit Blick auf verschiedene Übersetzungen und Ausleger stellt Lane aber eine Minderheitenmeinung dar.

2. ὅταν … εἰσαγάγῃ = „wenn er … eingeführt wird“

εἰσαγάγῃ ist ein aktiver Konjunktiv Aorist in der 3. Person Singular. In dieser Form hat das Verb keine Zeitbedeutung. Man kann also von der Verbform her nicht sofort erkennen, auf welche Zeit das Verb sich bezieht. Es könnte sich theoretisch auf die Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft beziehen. Allein der Kontext ermöglicht es dem Leser, die gedachte Zeit zu erfassen.
Wenn griechische Verben keine Zeitbedeutung transportieren (was sie nur im indikativ wirklich tun), dann transportieren sie eine Aspektbedeutung. Damit ist gemeint, dass die Handlung des Verbs z.B. als stetig andauernd (durativ), oder stetig wiederholend (iterativ) oder als eine einmalige Handlung beschrieben wird. Der Aorist beschreibt in diesem Zusammenhang sehr häufig eine Handlung ohne eine Aussage darüber zu treffen, ob es sich um einen einmaligen oder anhaltenden Vorgang handelt.
Der Aorist ist in dieser Konstellation komplett unmarkiert. Der Ausleger muss sich den zeitlichen Rahmen und die Dauer der Handlung allein vom Kontext her erschließen.

Für V.6 können wir zwei Ergebnisse recht schnell festhalten:
1. ὅταν + Konjuktiv bezieht sich entweder auf etwas zukünftiges (meist mit Aorist), oder etwas gegenwärtiges/allgemeingütliges.
2. Das Einführen des Sohnes durch den Vater ist ein einmaliger Vorgang, der aber bleibende Auswirkungen hat.

Auf welchen Zeitraum aber bezieht sich dieses „Einführen“? Folgende Optionen sind denkbar:

  • Jesus wird als Mensch durch die Geburt durch Maria in die Welt eingeführt, und als das geschieht spricht Gott diese zu den Engeln
  • Jesus wird bei seinem zweiten Kommen wieder in die Welt eingeführt, und wenn das geschehen wird, wird Gott diese Worte zu den Engeln sprechen
  • Jesus wurde nach Tod und Auferstehung durch die Himmelfahrt wieder in die himmlische Welt eingeführt und bei dieser Gelegenheit spricht Gott diese Worte zu den Engeln

Die erste Option lässt sich relativ einfach ausschließen, denn aus 2,7 lässt sich erkennen, dass die Menschwerdung Jesu für den Autor des Heb keine Erhöhung, sondern eine zeitweilige Erniedrigung Jesu darstellte (Vgl. Phil 2,5-8).

Bleiben noch die beiden anderen Möglichkeiten, die wir näher betrachten möchten.

Zuerst ein paar Gedanken zum Begriff πρωτότοκον = Erstgeborener.

Wie schon in V.5 spielt der Autor des Briefes hier mit den Begriffen und ihrer Mehrdeutigkeit. In V.5 bezog sich der Gedanke der Zeugung auf die Throneinsetzung als König. Gleichzeitig sehen wir darin Bezüge zur Geburt Jesu durch Maria, gezeugt durch den Heiligen Geist.

Der Begriff des „Erstgeborenen“ in V.6 kann auch in dieser Mehrdeutigkeit verstanden werden. Mit ihm bezeichnet man einerseits die Würde und den Rang einer Person – auf den erstgeborenen Sohn gingen Besitz und Autorität des Vaters über. Auch König David wird als „Erstgeborener“ vor allen Königen der Welt bezeichnet (Ps 89,27).
Auf der anderen Seite kanner auch wortwörtlich auf die Reihenfolge der Geburt hinweisen – der zuerst geborene.
Jesus – als präexistenter Teil der Dreieinigkeit – wurde nicht geboren. Bezogen auf ihn trägt „Erstgeborener“ die erste Bedeutung: Er steht vor und über Allem und er hat Rang und Autorität des Vaters inne.
Jesus – geboren durch die Jungfrau Maria – war tatsächlich der Erstgeborene seiner Familie und so ging der Anspruch auf den Thron Davids aus der familiären Königslinie auf ihn über.

3. οἰκουμένη = Welt

Offen bleibt die Frage, in welche Welt er von Gott eingeführt wird. Denn mit der οἰκουμένη könnten sowohl die irdische Welt als auch die himmlische Welt gemeint sein. Wobei letztere Deutung – als himmlische Welt – davon abhängig ist, was man unter der „kommenden Welt“ in Hebr 2,5 versteht. Zwischen 2,5 und 1,6 besteht eine inhaltliche Verbindung („worüber wir gesprochen haben“). Die Auslegung des einen Verses hat Auswirkungen auf die Auslegungen des anderen Verses.
Vom Gesamtzeugnis der Schrift her ist mit der „kommenden Welt“ mit großer Wahrscheinlichkeit der Anbruch der sichtbaren Herrschaft Jesu auf der – erneuerten – Erde gemeint (Hebr 2,6-7).

Wenn man sich die verschiedenen „Orte“ Jesu, seinen jeweiligen Status und die Frage, ob die Menschen ihn sehen können, der Reihe nach betrachtet, ergibt sich folgendes Bild:

Ort Status Sichtbarkeit für Menschen
inkarniert/Erde niedriger als Engel sichtbar
exaltiert/Himmel höher als Engel unsichtbar
exaltiert/Erde höher als Engel sichtbar

Lane (WBC) hat Recht, wenn er anmerkt, dass die Anbetung durch die Engel bereits mit der Erhöhung in den Himmel durch die Himmelfahrt – seine Thronbesteigung – begonnen hat. Es ist sicherlich schwer vorstellbar, dass Jesus in den Himmel zurückgekehrt ist, ohne dass die Engel ihm Anbetung haben zukommen lassen und dass diese damit erst beginnen, wenn er wieder zur Erde zurückkehrt, um seine Herrschaft dort anzutreten.

Aber Lanes Begründung für seine These, dass aufgrund von Hebr 2,5 mit οἰκουμένη die himmlische Welt gemeint sein soll, ist in meinen Augen nicht sofort schlüssig. Denn die kommende Welt ist nicht die himmlische Welt, sondern es ist die erneuerte Welt, in der der Spalt zwischen Himmel und Erde überwunden sein wird. In der kommenden Welt wird Gott für immer „Immanuel“ sein – Gott unter uns – und zwar auf der Erde (Offb 21,3).

Es gibt zwei Möglichkeiten dieses Dilemma zu lösen:

1) Entweder man bezieht diesen Vers auf das zweite Kommen Jesu. Dann müsste man aber eine Erklärung dafür finden, dass die Engel Jesus erst dann anbeten werden, wenn Jesus auf die Erde wiederkommt.

2) Man bezieht den Text auf die Wiederkehr Jesu in die himmlische Welt. Dann müsste man aber argumentieren, wieso οἰκουμένη hier eine eigene und – zumindest laut bekannter Literatur – einzigartige Bedeutung hat.

Mögliche Argumentationsansätze für 1) wären:
Der Autor greift auf ein Zitat aus den Psalmen zurück, das ihm hilft, eine gewünschte Aussage zu unterstreichen: Jesus steht über den Engeln und diese müssen ihn anbeten. Der Autor hat dabei nicht alle möglichen Konsequenzen seiner Anwendung des Zitats berücksichtigt. Ihm ist dabei kein Fehler unterlaufen und er hat auch nichts falsches kommuniziert. Er hat aber der Erkenntnis, dass Jesus bereits im Himmel angebetet würde – nicht erst bei seinem zweiten Kommen auf die Erde – keine große Aufmerksamkeit geschenkt. Für ihn ist entscheidend, dass Jesus von den Engeln angebetet wird, und das Gott, der Vater, das so angeordnet hat. Der konkrete Ablauf der Ereignisse ist nebensächlich.

Mögliche Argumentationsansätze für 2) wären:
Mit der zukünftigen Welt ist doch – entgegen der bisherigen lexikalischen Datenlage – die himmlische Welt gemeint. Vom Vater Unser und vom Bild des Neuen Jerusalems aus Offb 21 gedacht, könnte man sagen: Die himmlische Welt ist genauso eine konkrete Lebensrealität wie die irdische Welt – nur mit anderen Zuständen und Umständen. In der himmlischen Welt gilt der Wille des Vaters und wird vollkommen umgesetzt. Die zukünftige und die jetzige Welt stehen nicht gegeneinander oder nebeneinander, sondern stehen zueinander bezogen und bewegen sich aufeinander zu. Eines Tages wird die zukünftige Welt sich über diese Welt „stülpen“ und sie für immer nach dem Willen des Vaters umgestalten. Wenn Christus also in die zukünftige Welt eingeführt wird, dann ist das nicht eine ganz andere Welt als unsere, sondern es ist die bereits jetzt existierende, zukünftige Form unserer eigenen Welt, die sichtbar wird und in der wir als Ziel ankommen werden, wenn Christus wiederkommt. Christus ist mit der Himmelfahrt „zurück in die Zukunft“ gekehrt, die für uns eines Tages zu unserer eigenen Realität und Gegenwart wird.

Für beide Argumentationsansätze ist es übrigens unerheblich, ob πάλιν (wiederum) sich auf εἰσαγάγῃ (einführen) oder λέγει (spricht) bezieht, denn in beiden Fällen wird Jesus ja erneut in einen Ort eingeführt, an dem er vorher bereits gewesen ist.

Ich selbst tendiere zur zweiten Möglichkeit, nämlich dass 1,6 sich auf die Wiederkehr Jesu in die himmlische Welt bezieht. Ich denke, dass οἰκουμένη tatsächlich das zukünftige Friedensreich im Blick hat, welches im Himmel bereits jetzt realisiert ist.
Dorthin ist Christus zurückgekehrt, um bereits jetzt seine Herrschaft anzutreten. Diese wird aber erst dann vollständig aufgerichtet sein, wenn er sein Friedensreich sichtbar bei uns errichtet hat.

Was πάλιν betrifft, so kann man nicht ganz ausschließen, dass es sich auf λέγει bezieht. Aber der Verweis darauf, dass πάλιν sonst im Heb nur mit καὶ als Konnektor fungiert, während das καὶ in 1,6 fehlt, lässt sich nicht von der Hand weisen. Zumal es, wie erwähnt, inhaltlich auch keine Schwierigkeiten gibt, πάλιν mit εἰσαγάγῃ zu verknüpfen: Christus wurde erneut in die (himmlische) Welt eingeführt.

Obwohl die genaue Übersetzung des Verses einiges Kopfzerbrechen bereiten kann, ist die inhaltliche Aussage unabhängig von der konkreten Übersetzung relativ einfach: Gott selbst hat Christus einen Ehrenplatz zugewiesen und angeordnet, dass die Engel im Anbetung zukommen lassen. Christus steht damit auf einer Stufe mit dem Vater.

Der Kontrast zu den Engeln wird in V.7 und den darauf folgenden Versen weiter ausgeführt.


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